Der Einfluss der Inkubationstemperatur auf die Geschlechtsausbildung
Bei Europäischen Landschildkröten entscheidet bekanntlich die Inkubationstemperatur, ob das Tier männlich oder weiblich wird. Bevor das Embryonalstadium eine bestimmte Entwicklungsphase erreicht hat ist das Tier geschlechtslos. Bei uns Säugetieren fällt die Entscheidung über das Geschlecht dagegen im ersten Moment der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Das Geschlecht wird durch Chromosomen festgelegt.
Mich interessierte, ob das Phänomen der temperaturgebundenen Geschlechtsdifferenzierung einzigartig in der Tierwelt ist. Manchmal wird ja von Schildkrötenhaltern auch darüber spekuliert, ob es bei der Inkubation von Eiern nicht zwei Scheitelpunkte geben könne, so dass ab einer entsprechend niedrigen Temperatur wieder Weibchen schlüpfen.
Antworten habe ich in folgenden Artikeln gefunden:
Alex Quinn How is the gender of some reptiles determined by temperature?
in Scientific American 2007
http://www.scientificamerican.com/article/experts-temperature-sex-determination-reptiles/
Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Temperaturabh%C3%A4ngige_Geschlechtsbestimmung
Zhu, X.-P., Y.-L. Chen, C.-Q. Wei, Y.-H. Liu & J-F. Giu (2006):
Temperatureffekte in Bezug auf die Geschlechtsausprägung bei Gelben Sumpfschildkröten (Mauremys mutica Cantor)
in Schildkröten im Fokus 1/2008
http://www.schildkroeten-im-fokus.de/wif/zhu02.html
David Madge, D.Sc. TEMPERATURE AND SEX DETERMINATION IN REPTILES WITH REFERENCE TO CHELONIANS
für BCG British Chelonia Group
Das Phänomen ist nicht einzigartig. Es gibt innerhalb der beiden Möglichkeiten der Geschlechtsdifferenzierung sogar noch weitere interessante Varianten.
Lebewesen, bei denen das Geschlecht durch Chromosomen angelegt ist, werden dem GSD-Typ (Genotypic sex determination) zugeordnet. Lebewesen, bei denen die Ausbildung des Geschlechts temperaturabhängig ist, dem TSD-Typ (Temperature dependent sex determination). Ein Lebewesen kann nicht gleichzeitig zum GSD-Typ und zum TSD-Typ gehören. Es gibt auch Tiere, die das Geschlecht wechseln können, wie manche Fische und eine Eidechsenart.
Hier die unterschiedlichen Formen der beiden Typen und einige Beispiele:
GSD-Typ1:
Zwei Gleiche Chromosomen = weiblich, zwei unterschiedliche Chromosomen = männlich
Dazu gehören alle Säugetiere, der Grüne Iguana und die meisten Insekten
GSD-Typ2:
Zwei Gleiche Chromosomen = männlich, zwei unterschiedliche Chromosomen = weiblich:
Dazu gehören Vögel, Schlangen und einige Insekten.
TSD Typ 1a: höhere Temperaturen ergeben Weibchen, niedrige Männchen. Dazu gehören die meisten Land-, Wasser-, Sumpf- und Meeresschildkröten
TSD Typ 1b: höhere Temperaturen ergeben Männchen, niedrige Weibchen:
Dazu gehören Alligatoren, Echsen
TSD Typ 1c: höhere Temperaturen ergeben Weichen, niedrige beide Geschlechter:
Dazu gehören Halswender-Schildkröten wie Pelusios seychellensis, Kinosternon spp, Alligator-Schnappschildkröte (Macrochelys temminckii)
TSD Typ 2: Hohe und niedrige Temperaturen ergeben Weibchen, mittlere Temperaturen Männchen:
Dazu gehören Krokodile, Schnappschildkröte (Chelydra serpentina)
Europäische Landschildkröten gehören eindeutig zum TSD-Typ 1a. Das heißt: Geschlechtschromosomen spielen keine Rolle. Bei Bruttemperaturen über der Scheiteltemperatur innerhalb der thermosensiblen Phase entstehen Weibchen. Unterhalb dieser Temperatur entstehen Männchen.Die Scheiteltemperatur liegt je nach Unterart und Lokalform etwa bei 31,5 – 32,5°C.